Wer bestimmt eigentlich, was „normal“ und was psychisch krank ist? Welche Kriterien liegen der Definition zugrunde? Ab wann besteht (Be-)Handlungsbedarf? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Einflüsse beim Erkennen und Behandeln? Und was ist eigentlich Stigmatisierung und wie entsteht sie?
Der sozialwissenschaftliche und philosophische Diskurs kennt viele Begrifflichkeiten zur Beschreibung von Abweichungen, die alle unterschiedliche Konnotationen umfassen: Psychische Krankheit, psychische Störung, psychische Abweichung, Geisteskrankheit, Wahnsinn. Innerhalb medizinisch-psychiatrischer Diskurse hat sich mit der Verbreitung der standardisierten Diagnosemanuale der Begriff der „Störung mit erheblichen Krankheitswert“ etabliert, der nicht nur Behandlungsbedarf signalisiert, sondern darüber hinaus weitreichende Folgen innerhalb der sozialen Sicherungssysteme hat. Ob Verrentung im Krankheitsfall, Abwesenheit vom Arbeitsplatz oder bei der Inanspruchnahme von Assistenzmaßnahmen: Sowohl im Positiven wie im Negativen stützt sich die Exekutive des Sozialstaates auf die normierende Kraft der Krankheit. Das Konzept der „krankhaften Störung“ enthält so eine deutlich normative Komponente.
Die Zuschreibung von psychischen Störungen wird auf der anderen Seite in ihrem Erleben, ihrer Interpretation, in ihrem Ausdruck innerhalb der Gesellschaft durch vielfältige historische, politische, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen beeinflusst. So hängt es von den jeweiligen Normalitätserwartungen der gesellschaftlichen Gruppierung ab, ob ein Erleben oder Verhalten als problematisch oder als „normal“ angesehen wird. Moderne Gesellschaften haben für die Zuweisung und Behandlung psychischer Störungen eigene Kategorien, wie das psychiatrische Versorgungssystem, entwickelt. Vor dem Hintergrund dieser Ausdifferenzierung entwickeln sich auch spezifische institutionelle Eigenwerte, Sensibilitäten und Interessen, die mit Definitionsmacht ausgestattet sind und sowohl den Charakter als auch die adäquate Behandlungsform psychischer Störungen bestimmen.
Vor diesem Hintergrund führen die gesellschaftlichen Rahmungen nicht zuletzt zu einer ungleichen Verteilung sowohl psychischer als auch physischer Erkrankungen. Bildung und Einkommen sind wesentliche Merkmale einer sich bildenden gesundheitlichen Ungleichheit. Aber auch Faktoren wie Alter, Geschlecht, Region, Religion und Ethnizität spielen eine Rolle in der Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob die verschieden gesundheitlichen Ungleichheiten auch als ungerecht zu bewerten sind oder unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein können.
Im Rahmen des Lehrforschungsprojekts “Das ist doch krank, oder?” soll Medizin- als auch Sozialwissenschafts- und Philosophiestudierenden im interdisziplinären Seminar die Möglichkeit geboten werden, das Thema psychische Gesundheit, sowie das Zustandekommen von Krankheitsdefinitionen, Diagnosen und ihrer Behandlungswürdigkeit, als auch die Zuschreibungen aufgrund sozio-ökonomischer und anderer gruppenbezogener Merkmale kritisch zu reflektieren. Ziel ist die Stimulation eines disziplinübergreifenden Dialogs, der es erlaubt, sich mit fachfremden Sichtweisen auseinanderzusetzen und die eigene fachliche Haltung zu hinterfragen.
Was heißt Lehrforschung?
“Forschendes Lernen […] verbindet die inhaltliche Neugier mit einem methodischen Vorgehen, das den Ansprüchen nach Wiederholbarkeit, Transparenz und verständlicher Darstellung genügt. Konkrete Forschungserfahrungen ermöglichen ein praktisches Vertrautwerden mit wissenschaftlichen Arbeits- und Denkweisen. In der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden ist forschendes Lernen in disziplinäre und interdisziplinäre Diskurse eingebunden, die kritisch-konstruktiv dazu beitragen, das individuelle Wissen in einen Gesamtzusammenhang zu setzen, zu erweitern, zu bestätigen bzw. zu korrigieren.”
- Selbstständigkeit (bei der Wahl der Fragestellung und der methodischen Vorgehensweise)
- Wissenschaftlicher Anspruch (Orientierung an den (inter-)disziplinären Gütekriterien, kritisch-fragende Haltung)
- Offenheit/Freiheit (mit Blick auf den Prozessverlauf und das Ergebnis)
- Gemeinschaftlichkeit/Miteinander/Gemeinsinn (in der Arbeitsweise, in der Betreuung und Lehr-Lern-Methode, bei der Präsentation)
- Öffentlichkeit (bei der Ergebnispräsentation).
Das Projekt “Das ist doch krank, oder?” soll in zwei aufeinander folgenden Semestern durchgeführt werden, wobei die Lehrveranstaltung paritätisch nach Fakultäten besetzt werden. In der ersten Projektphase erfolgt ab Januar 2020 die Vorbereitung des Lehrprojekts. Im Sommersemester 2020 wird das Lehrprojekt erstmals durchgeführt. In der ersten Seminarhälfte wird den Studierenden durch intensive interdisziplinäre Arbeit eine umfassende Einführung in den Themenbereich und das Spannungsfeld sowie die qualitativ-empirische Methode gegeben. Im Anschluss an diese Phase folgt die praktische Forschungsarbeit an ausgewählten Themen in Kleingruppen, in welchen erste Ideen für einen Interviewleitfaden und die Datenerhebung erarbeitet werden. Unterstützt werden die Studierenden durch Dozenten, die die Seminarphase gestalten und den Forschungsprozess begleiten. Dabei erarbeiten die Studierenden ihre wissenschaftlichen Ergebnisse nicht allein für den Unterrichtskontext, sondern im Hinblick auf die Präsentation ihrer Erkenntnisse an die Forschungsöffentlichkeit.
Unsere Ziele
Das geplante Lehrprojekt soll den Studierenden Kompetenzen vermitteln, die in dieser Form in den Fachstudiengängen derzeit nicht angeboten werden und so diese ergänzen.
- Die Studierenden sollen Einblicke in zentrale Themen des Spannungsfeldes von Psychiatrie und Gesellschaft erhalten
- Die Studierenden sollen ethische, soziale und professionelle Herausforderungen innerhalb des Spannungsfeldes empirisch erforschen und kritisch analysieren.
- Die Studierenden sollen gesundheitliche Ungleichheiten innerhalb des Gesundheitssystems reflektieren, kritisch bewerten und entsprechend einordnen können.
- Die Studierenden sollen Fähigkeiten und Fertigkeiten der selbstständigen Planung, Durchführung Auswertung und Präsentation (qualitativ-)empirischer Forschungsprojekte erwerben.
- Die Studierenden sollen Kenntnisse bezüglich normativer Prämissen verschiedener Krankheitsbegriffe und -konstruktionen erwerben und ihre diesbezügliche Reflexionsfähigkeit weiterentwickeln.
- Die Studierenden sollen Fähigkeiten und Fertigkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Reflexion des eigenen professionellen Handelns im Studien- und Berufskontext erwerben.
Unsere Förderer
“Das ist doch krank,oder? wird von der Förderlinie “Forschendes Lernen³” von InSTUDIES plus finanziert.